Wer einmal einen Blick dafür entwickelt hat, stellt rasch fest: Hochbegabte Menschen finden sich überall, in jedem Bereich des Lebens, in allen möglichen Berufen und allen Lebens­lagen. Das Spektrum hoch­begabter Menschen ist ebenso unter­schiedlich und bunt wie bei allen anderen Menschen. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es dennoch häufig etwas Ver­bindendes:

Viele hoch­begabte Menschen spüren tief im Inneren, dass Ihnen etwas fehlt, um sich selbst und die eigene Identität zu verstehen. Das nagende Gefühl, irgend­wie anders zu sein, sucht nach einer Erklärung, einem Puzzle­stein, mit dem das Leben plötzlich klar, versteh­bar und gestaltbar wird. Bleibt diese Klarheit zu lange aus, kann das hoch­begabte Menschen auf psychischer und sozialer Ebene sehr belasten. Aufklärung und die mutige Frage "Bin ich vielleicht hochbegabt?" können helfen.


A Ein heikles Thema

Der Gedanke "Bin ich vielleicht hochbegabt?" hat für viele Menschen etwas Unangenehmes an sich. Es klingt, als ob man glauben würde, "etwas Besseres" zu sein. Und rasch taucht die Idee einer intellektuellen Elite auf. Doch Intelligenz ist nur eine von vielen menschlichen Eigenschaften und wie bei allen anderen Eigenschaften gibt es auch hier Schwankungen. Und jede Ausprägung von Intelligenz bringt individuelle Chancen und Herausforderungen mit sich.

Es gibt allerdings einen wichtigen Grund, gerade das Thema überdurchschnittlicher Intelligenz anzusprechen: Außergewöhnliche Begabungen im Sport oder in der Kunst sind gesellschaftlich anerkannt und werden mitunter sogar bewundert. Ein talentierter Musiker oder ein herausragender Athlet erhält oft schon früh Unterstützung, findet leicht Gleichgesinnte und erlebt seine Begabung als identitätsstiftend.

Intellektuelle Hochbegabung hingegen bleibt häufig unsichtbar – sei es, weil sie dem Betroffenen selbst nicht bewusst ist oder weil sie aus Angst vor Ablehnung verborgen wird. Inhalte und Tempo in der Schule sind für den normal begabten Schüler konzipiert. Hochbegabte erleben daher sehr früh, dass sie „nicht ins System passen“. Statt Anerkennung und Förderung ernten Hochbegabte nicht selten Neid und Abwertung: Sie werden als „Streber“ oder „Nerd“ abgestempelt, fühlen sich isoliert, unverstanden und haben es schwerer, passende soziale Bezugspersonen zu finden. Darunter leidet die Selbstwahrnehmung und das kann zu erheblichem psychischen Druck führen. Deshalb verdient die Auseinandersetzung mit intellektueller Hochbegabung besondere Aufmerksamkeit.

Hochbegabung ist jedenfalls kein Werturteil. Hochbegabte Menschen sind weder "besser" noch "schlechter" als andere. Sie sind im Regelfall auch nicht erfolgreicher, glücklicher oder lebenstüchtiger.

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Begabung im Allgemeinen und Hochbegabung im Besonderen sind vielschichtige Phänomene, die sich einer einfachen Kategorisierung entziehen. Es handelt sich nicht um fest umrissene Merkmale, denn Menschen können auf vielen Gebieten über unterschiedlich hohe Begabungen verfügen. Man denke nur an Höchstleistungen im Sport oder in der Kunst.

In meiner beraterischen Tätigkeit fokussiere ich auf die intellektuelle Hochbegabung. Diese geht mit einer besonderen Art des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens einher und wird allgemein über einen bestimmten IQ-Wert definiert, obwohl sich Forscher im Klaren darüber sind, dass auch dies eine Vereinfachung darstellt, die der Komplexität eines Menschen nicht gerecht wird.

Anzeichen für eine solche Hochbegabung sind meistens schon im Kindesalter vorhanden und bleiben (natürlich) im Erwachsenenalter bestehen. Was oft übersehen wird: Die überdurchschnittlich hohe kognitive Kapazität kann sich in verschiedenen Bereichen zeigen wie zum Beispiel sprachlichen oder mathematisch-logischen Fähigkeiten, in gestalterischer oder musischer Kreativität oder in besonderer sozial-emotionaler Feinfühligkeit.

Frühes Lesen, Schreiben oder Rechnen sind keine sicheren Anzeichen für Hochbegabung. Auch schulische oder berufliche Erfolge sagen nichts eindeutig darüber aus. Hochbegabung kann weder daran erkannt noch durch ihr Fehlen ausgeschlossen werden. Deshalb ist ein geschulter und offener Blick wichtig, um trotz aller Unterschiede typische Merkmale zu erkennen.

Aus neurobiologischer Sicht ist Hochbegabung eine Art von Neurodiversität. Das Gehirn hochbegabter Menschen scheint anders "verschaltet" zu sein als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Das trägt zu einem qualitativ anderen Denken und intensiveren Erleben bei. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass manche funktionalen Netzwerke im Gehirn stärker ausgeprägt sind. Zudem gibt es Vermutungen, dass das Nervensystem weniger automatische Filtermechanismen nutzt, wodurch das Gehirn schneller auf mehr Inputs gleichzeitig zugreifen und diese besser vernetzen kann.

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Hochbegabung prägt die gesamte Persönlichkeit und drückt sich (in den Worten von Mary-Elaine Jacobsen) besonders durch ein Mehr an Intensität, Komplexität und innerem Antrieb im Denken, Wahrnehmen und Fühlen aus. Dies führt jeweils zu besonderen Chancen und ebenso zu Reibungspunkten.

  1. Hochbegabte zeichnen sich durch ein intensives und netz­werk­artiges Denken aus. Sie erfassen komplexe Zusammen­hänge schnell, finden viel­fältige und neue Lösungs­wege. Oft verfügen sie über außer­gewöhnliche verbale Fähigkeiten, einen großen Wortschatz und eine differenzierte Ausdrucksweise. Ihre Denkweise ist häufig sehr kreativ. Ihre Vorstellungskraft ermöglicht es ihnen, innovative Ideen zu entwickeln. Sie verfügen außerdem oft über ein gutes Gedächtnis und können Informationen effizient abrufen und verknüpfen.

    Diese Denkweise bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich. Hochbegabte empfinden einfache Aufgaben oder routinemäßige Abläufe häufig als langweilig. Ihr höheres Tempo führt oft zu Ungeduld. Viele Hochbegabte kämpfen außerdem mit einem ungesunden Perfektionismus. Manchmal haben sie sogar Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, da sie zu viele Abwägungen anstellen und Möglichkeiten berücksichtigen.

    Hochbegabte Menschen haben häufig ein breites Interessenspektrum und einen ausgeprägten Wissensdurst. Stets sind sie dabei, neue Themen zu erforschen. Man könnte fast sagen: Sie können nicht nicht lernen. (Auf Barbara Sher geht der Begriff "Scanner-Persönlichkeit" zurück, mit dem sie Personen beschrieben hat, die sich nicht mit einem Interessengebiet zufriedengeben. "Scanner" seien neugierig, kreativ und wollen immer etwas Neues lernen und ausprobieren. Bei vielen Menschen mit einer ausgeprägten "Scanner-Persönlichkeit" kann eine (unentdeckte) Hochbegabung vermutet werden.)

    Paradoxerweise sehen sich viele Hochbegabte selbst nicht als außergewöhnlich intelligent. Ihnen ist bewusst, dass alles Wissen immer nur begrenzt ist und dass es noch vieles gibt, was es zu lernen gäbe. Für viele Hochbegabte wird sogar genau das zur Belastung, wenn sie erkennen, dass sie nie allen Interessen völlig gerecht werden können.
     
  2. Hochbegabte zeichnen sich oft durch eine umfassende und besonders eindrückliche Wahrnehmung aus. Ihre Sinne sind feinfühliger, wodurch sie Licht, Geräusche, Berührungen und andere Reize verstärkt wahrnehmen. (Dies erinnert zu Recht an das Phänomen, das die Psychologin Elaine Nancy Aron unter dem Begriff "Hochsensitivität" bzw. "Hochsensibilität" [HSP] bekannt gemacht hat, denn sehr viele Hochbegabte sind zugleich ebenfalls hochsensitiv. Beide Gruppen sind jedoch nicht deckungsgleich. Hochbegabung betrifft ca. 2% der Bevölkerung; Hochsensitivität wird bei ca. 15% der Bevölkerung vermutet. Es gibt demnach manche Hochbegabte, die nicht hochsensitiv sind, und es gibt viele Hochsensitive, die nicht hochbegabt sind.)

    Diese außergewöhnliche sensorische Sensibilität zeigt sich in einer besonders guten visuellen und auditiven Wahrnehmung, einem feinen Fingerspitzengefühl und einer ausgeprägten Fähigkeit, selbst kleinste Details zu erkennen. Diese differenzierte Wahrnehmung ermöglicht es ihnen, ihre Umwelt mit außergewöhnlicher Präzision und Tiefgang wahrzunehmen und gestalterisch kreativ zu sein.

    Mit dieser Intensität sind ebenfalls Herausforderungen verbunden. Hochbegabte sind häufig lärm-, licht- und berührungsempfindlich. In Umgebungen mit vielen Reizen (beispielsweise in Menschenmengen oder lauten Umgebungen) führt dies schnell zu einer Überforderung. Dies kann Konzentrationsprobleme, Panikattacken, sozialen Rückzug oder emotionale Zusammenbrüche auslösen.
     
  3. Hochbegabte Menschen haben eine reichhaltige und tiefgehende Gefühlswelt. Viele Menschen verbinden mit intellektueller Hochbegabung das Klischee eines rein rationalen und analytischen Geistes. Dies trifft jedoch nur selten in dieser Form zu und hat im Regelfall mehr mit anderen Eigenschaften einer Person zu tun.

    Viele hochbegabte Menschen haben starke Emotionen. Sie fühlen intensiv und nehmen zwischenmenschliche Stimmungen fein wahr. Diese Gefühlsintensität zeigt sich auch in einem starken Gerechtigkeitssinn. Hochbegabte setzen sich häufig schon seit dem Kindesalter für Fairness und das Wohlergehen anderer ein.

    Doch die Kehrseite dieser Empfindsamkeit ist eine gewisse Dünnhäutigkeit und Überempfindlichkeit. Hochbegabte neigen dazu, sich vieles zu Herzen zu nehmen. Viele Hochbegabte erleben Gefühlsausbrüche und Stimmungsschwankungen. Sie empfinden Misserfolge und Kritik häufig sehr intensiv und tun sich schwer, diese emotional zu verarbeiten. Dies führt nicht selten zu starken Selbstzweifeln, die trotz ihrer Fähigkeiten und Leistungen auftreten können. (Zurückgehend auf William Dodson wird dieses Phänomen als "Rejection sensitive dysphoria" [RSD] bezeichnet. Eine solche Zurückweisungsempfindlichkeit führt dazu, dass Betroffene 1. Ablehnung ängstlich erwarten, 2. diese verstärkt wahrnehmen und 3. unangemessen heftig darauf reagieren. Das Phänomen wurde zunächst in Verbindung mit ADHS beschrieben, lässt sich allerdings bei vielen Neurodivergenzen finden. Ungeklärt ist, inwieweit die Neurodivergenz selbst, das aktuelle Umfeld und die biografischen Erfahrungen zu dieser Dynamik beitragen.)
     

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D Ein Thema für mich?

Auf die Begabungsforscherin Mary-Elaine Jacobsen geht die folgende Liste von Aussagen zurück, die für viele Hochbegabte sehr vertraut klingen. Wie stark finden Sie sich darin wieder?

Wer mehr als die Hälfte dieser Aussagen für sich selbst klar bejaht, gehört möglicher­weise zur Gruppe der Hoch­begabten. Nachdem es jedoch den "typischen Hochbegabten" nicht gibt, sind diese Be­sonder­heiten nicht bei allen hoch­begabten Menschen im gleichen Aus­maß aus­geprägt. Und wenn zur Hoch­begabung noch eine ästhetische, künst­lerische oder emotionale Hoch­sensibilität hinzu­kommt, ver­ändert sich das Bild erneut. Solche Merkmals­listen können dennoch eine erste Orientierung geben und finden sich hier:

Die kognitiven Aspekte einer Hochbegabung lassen sich tatsächlich allerdings nur bei qualifizierten Psychologen mittels eines wissenschaftlichen IQ-Tests wirklich überprüfen. (IQ Tests im Internet können der Unterhaltung dienen und sind manchmal als Puzzle belebend. Sie ersetzen allerdings nie den Test bei geschulten Psychologen. Nur dort sind korrekt normierte Testungen möglich. Es gibt eine große Zahl unterschiedlicher IQ Tests für unterschiedliche Altersgruppen und besondere Bedürfnisse. Damit offizielle Testergebnisse vergleichbar sind, müssen deren Werte manchmal umgerechnet werden. Auch hierzu berät Sie ein fachkundiger Psychologe genauer.)

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E Unbemerkt hochbegabt

Statistisch gesehen leben in Österreich über 200 000 hochbegabte Menschen (mit einem IQ ab 130) und ungefähr 10 000 davon sind höchstbegabt (mit einem IQ ab 145). Hochbegabung ist also bei Weitem nicht nur ein Thema für "vereinzelte Genies und Wunder­kinder". Dennoch wissen die wenigsten von ihrer Hochbegabung. Sie bemerken vielleicht, dass sie "leichter lernen" oder dass sie "irgendwie anders" sind, doch sie können das nicht richtig einordnen.

Das Thema Hochbegabung erlangt erst in den letzten Jahren in Zusammenhang mit anderen Neurodivergenzen langsam mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Vielen Erwachsenen ist das Vorliegen ihrer Begabung unbekannt. Dies ist leicht erklärbar: Begabung spielt sich quasi "im Inneren" ab und ist nicht so augenscheinlich wie die Körpergröße oder andere Eigenschaften. Daher vermutet eine hochbegabte Person, dass andere im Inneren ebenso funktionieren wie sie selbst, und gleichzeitig fällt ihr auf, dass es Abweichungen gibt. Wenn eine sinnvolle Erklärung für diese Abweichunngen oder das Verständnis des Umfelds fehlen, wird diese Person sich selbst für das Problem halten und darunter leiden.

Potenziale und Herausforderungen ab IQ 120 (Karin Joder)

Ein weiterer Grund, warum Hochbegabung im Lebensverlauf unerkannt bleibt, ist die Anpassung an gesellschaftliche Normen und Anforderungen. Viele hochbegabte Menschen entwickeln im Laufe der Zeit eine Strategie, um sich in der Gesellschaft "anzupassen". Sie lernen, ihre Fähigkeiten zu verbergen oder ihre Intellektualität herunterzuspielen, um keine negativen Reaktionen hervorzurufen oder nicht als "außergewöhnlich" aufzufallen. Diese Anpassung kann dazu führen, dass ihre Begabung nicht erkannt wird, weil sie sich unauffällig verhalten oder sich in einer "Durchschnittlichkeit" bewegen.

Für viele unerkannte Hochbegabte gleicht die Entdeckung ihrer Begabung zusammen mit der diagnostischen Bestätigung einem "zweiten Geburtstag". Es ist ein Augenblick, in dem die Welt in ein neues Licht getaucht wird: Plötzlich beginnt alles, was bisher unklar oder widersprüchlich erschien, Sinn zu machen. Der Lebensweg, der zuvor wie ein Puzzle aus unverbundenen Teilen wirkte, fügt sich zu einem verständlichen, kohärenten Ganzen zusammen. Es ist, als würde ein verborgener Schlüssel gefunden, der Türen öffnet zu Selbstakzeptanz, Klarheit und Freiheit, das eigene Leben mit neuer Kraft und Hoffnung zu gestalten.

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F Herausforderungen

Hochbegabung selbst ist kein Zustand, der einer therapeutischen Behandlung bedarf. Hochbegabung ist keine Krankheit und kein "Fehler". Dennoch empfinden hochbegabte Menschen oft schon früh, dass sie irgendwie "anders" sind. Dieses Gefühl des Andersseins kann psychosoziale Belastungen verursachen, bei denen Lebensberatung Unterstützung bieten kann.

Insbesondere Hochbegabte, die noch nicht über ihre Begabung Bescheid wissen, bemerken an sich oft Widersprüche, die sie sich nicht erklären können:

Hochbegabte zeigen oft eine intensivere neuronale Verarbeitung, die sie anfälliger für Reizüberflutung und emotionale Überforderung macht. Diese Besonderheiten sind nicht nur im sozialen Kontext, sondern auch im Hinblick auf psychische und körperliche Gesundheit von Bedeutung:

In meiner Beratungspraxis zeigt sich immer wieder, wie wichtig es ist, diese Zusammenhänge zu (er)kennen. Jede Art von Begabung ist ein bedeutender Teil einer gesunden Persönlichkeit und das Wissen rund um die eigene Hochbegabung sowie ein adäquater Umgang damit sind für ein erfülltes Leben sehr bedeutsam. Neben der Selbstakzeptanz spielt dabei die Gestaltung des Umfelds ebenfalls eine tragende Rolle. Die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Begabung kann dann ein Schlüssel zu Veränderungen in Richtung eines authentischen Lebens sein.

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Hochbegabte Menschen finden sich in allen Branchen auf allen Ebenen eines Unternehmens und häufig ist die Hochbegabung weder den betreffenden Mitarbeitern noch deren Vorgesetzten bekannt und es obliegt dann mehr dem Zufall, ob eine gute Passung zwischen Arbeitsumfeld und persönlichem Potenzial gefunden wird. Viele hochbegabte Menschen empfinden ihre Arbeit aus diesen Gründen als wenig herausfordernd und abwechslungsreich.

Auch unter idealen Bedingungen gibt es Stolpersteine: Hochbegabte Menschen setzen sich oft extrem hohe Standards und neigen zum Perfektionismus. Während das zu außergewöhnlichen Leistungen führen kann, erzeugt es mitunter Versagensängste, Vermeidungshaltungen oder einen ungesunden Leistungsdruck. Manche lehnen Beförderungen aus Angst vor Misserfolg ab, während andere sich in permanenter Überarbeitung erschöpfen. Hochbegabte Mitarbeiter haben außerdem oft ein ambivalentes Verhältnis zu Strukturen. Einerseits schätzen sie Klarheit und klare Ziele, andererseits fühlen sie sich schnell eingeengt, wenn Regeln und Prozesse als starr oder sinnlos empfunden werden.

Die soziale Interaktion am Arbeitsplatz kann für Hochbegabte eine weitere Hürde darstellen. Sie arbeiten am liebsten eigenständig oder mit anderen, die ähnlich denken wie sie. Auch die Fähigkeit, Probleme vorausschauend zu erkennen, wird nicht immer geschätzt – oft werden sie als Besserwisser wahrgenommen oder als schwierig empfunden. Manche Kollegen fühlen sich von ihrem Wissen oder ihrer schnellen Auffassungsgabe eingeschüchtert. So erleben Hochbegabte immer wieder Neid und Konflikte in der Kollegenschaft oder Angst um die eigene Position von seiten der Vorgesetzten. Daraus folgt, dass sich Hochbegabte immer wieder zerrissen fühlen zwischen dem Wunsch nach Authentizität und dem Druck, sich dem Umfeld anzupassen. Denn wer seine Begabung offen zeigt, riskiert Ablehnung; doch wer sich verstellt, kann sein Potenzial nicht voll entfalten.

Ein weiteres Dilemma ist die Erwartungshaltung: Hochbegabte Menschen wirken oft fähig und leistungsstark; daher wird rasch angenommen, dass sie alles ohne Unterstützung bewältigen. Gleichzeitig erfahren sie jedoch Kritik, wenn sie aus der Sicht der anderen zu dominant auftreten oder zu sehr auf ihren Standpunkten beharren. Dieses Spannungsfeld aus Anerkennung und Ablehnung kann belastend sein.

Arbeitgeber können dazu beitragen, ein förderliches Umfeld zu schaffen. Zunächst gilt es, die Hochbegabung zu erkennen, denn weder der Status der aktuellen Stelle noch die früheren Leistungen oder Ausbildungen genügen, um Hochbegabung zu identifizieren. Fürungskräfte sind daher aufgefordert, bewusst nach Anhaltspunkten von Hochbegabung Ausschau zu halten, um Mitarbeiter mit hohem Potenzial fördern zu können. Nach dem Erkennen geht es dann darum, eine gute Mischung von Autonomie und Freiheit einerseits und klaren Strukturen sowie realistischen Zielen andererseits zu finden, sodass persönliche Entwicklungsziele und betriebswirtschaftliche Ziele des Unternehmens eine Synergie bilden.

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Das Denken, Fühlen und Erleben hoch­begabter Men­schen unter­scheidet sich definitions­gemäß stark von dem des Durchschnitts. Es liegt somit nahe, dass Symp­tom­beschreibungen, die für den Durch­schnitt ent­wickelt wurden, bei Hoch­begabten nicht ohne Weiteres passen. Daher kommt es bei Hoch­begabten immer wieder zu psycho­logischen Fehl­diagnosen. Natürlich können hoch­begabte Menschen ebenfalls an Depressionen, Ängsten, Zwängen, Auf­merksam­keits­defiziten oder Persönlich­keits­störungen leiden. Doch die beob­achteten Symp­tome erhalten oft eine andere Bedeutung, wenn man sie unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden Begabung neu bewertet.

Verhaltens­weisen hochbegabter Menschen, die in Anbetracht ihrer intensiven neuronalen Prozesse völlig verständlich und "normal" sind, werden ohne Mit­berücksichtigung der Hoch­begabung manchmal vorschnell als "Symptome" von psychischen Störungen interpretiert, einfach weil sie sich vom Durch­schnitt der Bevölkerung abheben. So könnte ausgeprägte Gewissen­haftigkeit (z. B. Perfektionismus) als zwanghaft angesehen werden oder eine von außen vermutete Aufmerksam­keits­störung könnte auf quälende Lange­weile hinweisen. In meiner Praxis sehe ich auch immer wieder Menschen, die ihren hochaktiven Geist für ein Zeichen von ADHS halten und tatsächlich können Diagnosen, die nur auf der Grundlage von Fragebögen erstellt werden, dieses Vorurteil zunächst bestätigen, obwohl dieser Verdacht danach durch eingehende Leistungstests bei klinischen Psychologen ausgeschlossen wird.

Wenn Konflikte und Belastungen unter diesem Gesichtspunkt neu betrachtet werden, ergibt sich oft ein stimmigeres Bild, das tiefere Einsichten und ein umfassenderes Verständnis ermöglicht. Das Vorliegen einer Hochbegabung ist hierbei ein Schüsselaspekt, der einerseits die Art und Weise beeinflusst, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt und verarbeitet, und andererseits auch die individuellen Reaktionen auf Stress und Herausforderungen verändert.

Die Forschergruppe rund um James Webb erinnert daran, dass es beim Vorliegen einer Hochbegabung in der psychologischen Diagnostik zu drei verschiedenen Fehlerkategorien kommen kann:
(1.) Die Hochbegabung wird übersehen oder als nicht relevant abgetan und die außergewöhnlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen eines hochbegabten Menschen werden als psychische Störung oder Symptomatik missverstanden.
(2.) Die Hochbegabung erlaubt es einem Menschen, eine tatsächlich bestehende psychische Problematik auszugleichen, sodass Störungen übersehen werden und notwendige Hilfe unterbleibt.
(3.) Die Diagnose ist korrekt, doch die Behandlung berücksichtigt nicht die besonderen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Grenzen des hochbegabten Menschen.

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I Den Menschen sehen

Hochbegabte haben die gleichen Grundbedürfnisse wie jeder Mensch: Nähe, Respekt, Anerkennung, Liebe und Resonanz. Werden diese nicht erfüllt, leiden auch sie unter seelischen Verletzungen.

Einige Hochbegabte sind gut integriert, leben ihr Potenzial und fühlen sich erfüllt. Andere erleben wiederkehrende Herausforderungen und Schwierigkeiten im Beruf, Konflikte mit Vorgesetzten oder in der Partnerschaft.

Hochbegabte setzen sich aufgrund ihrer spezifischen "Grundausstattung" auf besondere Weise mit sich selbst, anderen und der Welt auseinander. Hochbegabung ist daher ein Teil des Selbstkonzepts und eng mit biografischen Lernerfahrungen verknüpft. Hochbegabung verdient es genau wie jede andere Ressource eines Menschen, wahrgenommen, respektiert und gefördert zu werden, damit sie sich frei entfalten kann.

Viele hochbegabte Erwachsene berichten jedoch, sich nicht immer in allen Lebensbereichen offen zeigen zu können – sei es in Bezug auf außergewöhnliche Kompetenzen, komplexe Gedanken oder intensives Erleben. Häufige Erfahrungen, anders zu sein, nicht verstanden zu werden, eigene Interessen nicht ausleben zu können oder mit Neid anderer konfrontiert zu sein haben oft dazu geführt, dass sie sich zu sehr anpassen, ihre Fähigkeiten herunterspielen, sich völlig zurückziehen oder umgekehrt andere vor den Kopf stoßen und sich selbst mit oppositionellem Verhalten schaden.

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J Im Einklang mit sich selbst leben

Hochbegabung für sich genommen ist nie die alleinige Ursache für Schwierigkeiten, sondern vielmehr die mangelnde Passung zwischen den individuellen Fähigkeiten und der Umwelt. Viele Hochbegabte erleben es daher als besonders erleichternd, offen über ihre Hochbegabung sprechen zu können. Eine gut integrierte und gelebte Hochbegabung wird zur Ressource.

Einige theoretische Begabungsmodelle, die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt wurden, zeigen auf, wie wichtig verschiedene andere Aspekte der Persönlichkeit in Interaktion mit diversen Umweltfaktoren sind, sodass aus dem Potenzial, welches in der Hochbegabung steckt, ein glückliches und erfolgreiches Leben erwächst. Zu erwähnen sind hier beispielsweise das Erlernen von Fähigkeiten zur Stressbewältigung, der Umgang mit Prüfungssorgen und Ängstlichkeit sowie das Entwickeln von Arbeits- und Lernstrategien, die zu einem selbst passen. Wenn dazu eine innere Klarheit über das "Warum" einer Tätigkeit kommt, also ein Sinn erkannt wird, der zu einer Leistungsmotivation führt, und gleichzeitig das berufliche und sonstige soziale Umfeld den nötigen Raum zur Entfaltung ermöglicht, dann kann sich Hochbegabung zu einem Geschenk entfalten.

Die genannten inneren und äußeren Einflussfaktoren sind auch für erwachsene Hochbegabte wesentlich und können in eine konstruktive Richtung beeinflusst werden. Durch professionelle Lebensberatung lassen sich sowohl die Spuren der Biografie zurückverfolgen als auch aktuelle Muster erkennen und verändern.

Ich bin selbst höchstbegabt und habe davon erst spät im Leben erfahren. Daher kenne ich die besonderen Herausforderungen für unerkannte Hochbegabte aus erster Hand. Sehr gerne begleite ich auch Sie auf Ihrer Reise zu sich selbst!

Wenn Sie Ihre persönlichen Eigenschaften und Talente (wieder) entdecken und wertschätzen, kann das bereits sehr befreiend wirken. Der Druck, irgendeiner Norm entsprechen zu müssen, löst sich oft von selbst auf und sie können sich selbst "frei erleben".


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