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Achtsame Körperarbeit nach Gindler/Jacoby Eutonie und Embodiment |
Was ist "Achtsame Körperarbeit"? Die Körperarbeit nach Elsa Gindler und Heinrich Jacoby ist eine feinfühlige Form der körperlichen Selbsterfahrung, die sich dem gesamten Menschen in seiner Ganzheit zuwendet. Sie basiert auf phänomenologischen und prozessorientierten Prinzipien. Alles, was sich zeigt, wird wertschätzend angenommen. Es gibt keine festgelegten Übungen, kein Richtig oder Falsch, sondern bloß neugieriges Erkunden und Entdecken.
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Im Fokus steht das Erlernen von Achtsamkeit für den eigenen Körper und die persönliche Entfaltung durch die Verbindung mit unserem Körper (Embodiment). Atemübungen und kleine Bewegungsexperimente machen gewohnte und unbewusste blockierende Haltungs- und Bewegungsmuster spürbar und zeigen gleichzeitig neue Wege zur Auflösung dieser Muster. Belastende Anspannungen weichen einer angenehmen und belebenden Wohl-Spannung (Eutonie). Es werden unterschiedliche Aspekte des körperlichen Erlebens beleuchtet: Das Gefühl, getragen zu werden, steht in enger Verbindung mit der Schwerkraft. Es erlaubt, innere Lasten bewusst loszulassen und sich gleichzeitig vom Boden halten zu lassen. Diese Erfahrung kann sowohl im Sitzen, Stehen als auch im Liegen gemacht werden. Die Atmung macht den Vorgang von Geben und Nehmen unmittelbar erfahrbar, der unser ganzes Leben prägt. Der Atem spiegelt unsere innere Verfassung und Unterschiede in Empfindungen und Bewegungen werden bewusst spürbar. Der innere Halt, den wir durch die Stütze des Skeletts sowie die Beweglichkeit der Gelenke erfahren, bildet das Fundament für das Erleben von Stabilität und Mobilität. Die Haut dient als Grenze und Kontaktfläche. Wenn Sie mit Ihren Händen oder unterschiedlichen Materialien sowohl Oberfläche als auch Tiefenstruktur Ihrer Haut erforschen, stärken Sie Ihre Beziehung zu sich selbst. Wie läuft "Achtsame Körperarbeit" in der Praxis ab? Zu Beginn klären wir gemeinsam Ihr Anliegen und Thema des Termins. Danach kann es im Stehen, Sitzen oder Liegen weitergehen. Im Sitzen wird auf einem Hocker gearbeitet; im Liegen auf einer angenehmen Matte am Boden. Bitte wählen Sie lockeres Gewand, damit Sie auch durch die Kleidung alles spüren können. Der Einstieg erfolgt immer mit einer fokussierenden Übung, in der Sie sich in Verbindung zum Boden und zum Atem wahrnehmen. Manchmal tauchen bereits während dieser Entspannung unterschiedliche Gedanken und Gefühle auf, die bearbeitet werden und damit zum Abbau von einschränkenden Überzeugungen beitragen. Für viele Menschen bringt daher schon dieser erste Schritt mehr Ruhe und Gelassenheit, Leichtigkeit und Energie sowie Stressreduktion und emotionales Wohlbefinden mit sich. Die weiteren Übungen entwickeln sich jedes Mal individuell aus dem, was zu Ihrem Anliegen und zu dem passt, was sich während des Einstiegs zeigt. Einige Übungen, die in der einen oder anderen Form öfter zum Einsatz kommen, sind zum Beispiel: Sanfte Berührung Mit der Hand oder einem Ball sanft den ganzen Körper ertasten und abstreichen. So erkunden Sie sanft Ihre Körperlandschaft und nehmen wahr, wie sich verschiedene Bereiche anfühlen. Achtsame Wahrnehmung Beobachten Sie Ihre Atmung bewusst und legen Sie Ihre Hände auf Ihren Bauch oder Brustkorb, um die Atembewegungen zu erspüren. Spüren Sie den Boden unter Ihnen, die Temperatur der Luft und die Textur Ihrer Kleidung. Selbstkontakt und Selbstakzeptanz Halten Sie sich selbst in einer liebevollen Umarmung oder legen Sie Ihre Hände sanft auf Ihre Arme und schenken Sie Ihrem Körper Aufmerksamkeit, um ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu schaffen. Kräftige Verwurzelung Im Liegen drücken Sie abwechselnd Füße, Becken, Hände und Schultern in den Boden. Spüren Sie, wie die Kraft durch Ihren Körper fließt und Sie aufrichtet. Erforschen Sie die Bewegungsmuster, die durch diese Verankerung entstehen. So stärken Sie Ihre Körpermitte und verbessern Ihre Propriozeption, den Sinn für Ihre Körperposition und Bewegung im Raum. Fließende Bewegungen Lassen Sie Ihre Schultern in sanften Rotationen kreisen und erkunden Sie die gesamte Bewegungsfreiheit in diesem Bereich. Neigen Sie Ihren Kopf langsam in Ja- und Nein-Bewegungen und spüren Sie die Dehnung und Entspannung Ihrer Nackenmuskulatur. Diese Übung lockert Verspannungen in den Schultern und im Nacken und verbessert Ihre Beweglichkeit. Gewicht und Balance Im Liegen Arme oder Beine langsam heben und achtsam absetzen, dabei das eigene Gewicht und die Veränderung der körperlichen Organisation spüren. Oder experimentieren Sie mit Gewichtsverlagerungen im Sitzen und Stehen. So entwickeln Sie ein Gefühl für dynamisches Gleichgewicht und ökonomische Bewegung. Atem und Bewegung Synchronisieren Sie Ihren Atem mit dem Drücken eines Balls. Spüren Sie, wie sich Ihr Körper mit jedem Atemzug anspannt und entspannt. So vertiefen Sie Ihr Gefühl für An- und Entspannung und lernen, Ihre Atmung bewusst zu steuern. Innere Freiheit Bewegen Sie jedes Gelenk einzeln und lassen Sie es der Schwerkraft folgend los. Spüren Sie die Leichtigkeit und den freien Fluss der Bewegung in jedem Gelenk. Diese Übung löst Verspannungen und verbessert Ihre Beweglichkeit sowie Körperwahrnehmung. Summender Atem Lassen Sie einen sanften Summton beim Ausatmen erklingen und spüren Sie die Vibrationen in Ihrem Körper. Lauschen Sie auf die resonanten Klänge, die entstehen, um ein Gefühl von Ruhe und Gelassenheit zu erreichen. Diese Übung kann helfen, Stress abzubauen und zu entspannen. Innere Beobachterperspektive Lassen Sie alle Gedanken und Gefühle ohne Urteil vorüberziehen. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit immer wieder sanft zurück auf Ihren Körper oder Atem. Beobachten Sie, wie Gefühle kommen und gehen, und ordnen Sie ihnen einen Platz in Ihrem Körper zu. Körperlicher Lebenslauf Begeben Sie sich auf eine Reise durch Ihren Körper. Berühren Sie verschiedene Stellen und erzählen Sie, was Ihnen dazu in den Sinn kommt. Lassen Sie Erinnerungen und Emotionen auftauchen und verbinden Sie sich mit Ihrer persönlichen Geschichte. So gewinnen ein tieferes Verständnis für sich selbst und Ihre Lebensgeschichte. Diese Übungen sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der vielfältigen Welt der achtsamen Körperarbeit. Lassen Sie sich auf diese Reise der Selbsterforschung ein und entdecken Sie die Kraft der Achtsamkeit, um Ihren Körper und Geist zu verbinden und Ihr volles Potenzial zu entfalten. Welche Rolle spielt "Achtsame Körperarbeit" in der psychosozialen Beratung? Wir erleben uns selbst und unsere Umwelt seit Beginn unseres Daseins in und durch unseren Körper. Achtsame Körperarbeit ist eine wertvolle Technik in der psychosozialen Beratung, die Klienten unterstützt, eine tiefere Verbindung zu ihrem Körper und ihren Emotionen zu entwickeln. Sie ermöglicht es, innere Ressourcen zu aktivieren, Blockaden zu lösen sowie Zufriedenheit und Lebensfreude zu fördern. Achtsame Körperarbeit verfolgt in der psychosozialen Beratung viele verschiedene Ziele: Verbesserung des Körperbewusstseins Durch achtsame Übungen und angeleitete Bewegungsexperimente lernen Sie, Ihren Körper bewusster wahrzunehmen. Sie spüren Spannungen, Blockaden und Empfindungen, die Ihnen zuvor nicht bewusst waren. Diese verfeinerte Körperwahrnehmung ist oft die Grundlage für alle weiteren Schritte in der Beratung. Selbstakzeptanz Sie lernen sich selbst besser kennen und begegnen sich selbst mit immer mehr Selbstfürsorge und Mitgefühl. Sie entwickeln ein positiveres Verhältnis zu Ihrem Körper, mehr Selbstachtung, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Befreiung und Integration Körperliche Anspannungen und Schmerzen stehen oft mit emotionalen Blockaden in Verbindung. Durch achtsame Körperarbeit können diese Blockaden auf sanfte Weise gelöst werden. Sie lernen, Ihre Emotionen zuzulassen und zu verarbeiten sowie mit belastenden Erfahrungen der Vergangenheit umzugehen und diese in Ihre Lebensgeschichte zu integrieren. Umgang mit Gefühlen Achtsamkeit hilft, mit Emotionen auf konstruktive Weise umzugehen und sie ohne Bewertung zu beobachten. Das Verständnis dafür, wie sich körperliche und emotionale Zustände gegenseitig beeinflussen, wird gesteigert, was zu einer verbesserten emotionalen Regulation führt. Stressreduktion Durch einen achtsamen Umgang mit sich selbst wird es einfacher, sich zu entspannen sowie Stress, Angst und Anspannung im Körper zu reduzieren und einen Zustand der Ruhe und Gelassenheit zu erreichen. Selbstwirksamkeit Achtsame Körperarbeit unterstützt dabei, innere Ressourcen wieder zu entdecken. Ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität wird möglich. Der Umgang mit Stress und schwierigen Situationen wird leichter und Resilienz wird stärker. Beziehungsgestaltung Die Verbindung von Körper und Geist spielt eine wichtige Rolle in der Beziehungsfähigkeit. Durch achtsame Körperarbeit lernen Sie, sich selbst und Ihre eigenen Bedürfnisse deutlich wahrzunehmen und klar zu kommunizieren. Sie entwickeln außerdem ein feineres Gespür sowohl für die Bedürfnisse anderer als auch für die eigenen Grenzen und können somit gesündere Beziehungen aufbauen. Personen und Ideen [Elsa Gindler: "Selbst-bewusst leben"] Elsa Gindler (Wikipedia-Eintrag, Biografie) prägte eine eigenständige Arbeitsweise, die sich als psychophysisches Verfahren zur Selbstbefähigung definiert. Ihr Ansatz betont die Arbeit an der (Selbst-) Wahrnehmung an der Schnittstelle von Körper und Denken. Gindler hebt die Bedeutung der bewussten Beeinflussung des Verhaltens hervor, indem das Interesse vom Objekt auf die eigenen Zustandsänderungen gelenkt wird. Der Abbau von Spannungszuständen und innerer Unruhe spielt dabei eine entscheidende Rolle und die positive Beeinflussung des psychophysischen Gleichgewichts wird angestrebt. Ihre Arbeitsweise ist geprägt von der tiefen Überzeugung, dass der Körper das zentrale Instrument für die Selbsterforschung ist. Der Mensch wird als Einheit von Körper und Geist betrachtet und die Verbindung zwischen beiden spielt eine entscheidende Rolle. Diese Überzeugung entwickelte sie schon sehr früh in Verbindung mit ihrer eigenen Erkrankung an Tuberkulose, die sie durch intensive Körperachtsamkeit ausheilen konnte. "Der Weg zur Beherrschung des Selbst führt über das Bewusstsein von uns selbst und unseren Empfindungen." (Gunna Brieghel-Müller) Die konkrete Praxis dieses Verfahrens unterscheidet sich von herkömmlichen Methoden durch ihre nichtdirektive Vorgehensweise. Der Fokus liegt nicht auf formalen Übungen, sondern auf bewusster Wahrnehmung des Erlebten. Die Reflexion darüber erschließt das Prinzipielle jeder Erfahrung. Statt standardisierter Übungen steht die individuelle Selbsterforschung im Mittelpunkt. Menschen sollen lernen, sich bewusst wahrzunehmen und auf ihre eigenen Erfahrungen zu vertrauen. Nachhaltige Veränderungen erfolgen von innen nach außen, aus der inneren Stille des Selbst heraus. Gindler kritisiert damit die übliche Vorgehensweise (insbesondere das mechanistische Nachmachen und Abarbeiten von Übungen) und legt Wert darauf, dass Menschen durch Körperübungen eine Beziehung zu ihrem Organismus gewinnen, um sich besser mit dem Leben auseinanderzusetzen. Im Streben nach Selbst-Bewusstsein betont Gindler die Rolle der Entspannung als Zustand höchster Reaktionsfähigkeit. Die Fähigkeit, sich nach Belastungen zu entspannen, wird als essenziell für die Regeneration und die Antwort auf Reize angesehen. Jacoby betonte dabei die Bedeutung des "Rückwegs" in der Bewegung. Die Selbsterforschung soll nicht nur die Beziehung zu sich selbst stärken, sondern auch die Fähigkeit unterstützen, sich in Beziehung zur Umwelt zu setzen. Diese Arbeitsweise war wegweisend in der Betonung der Selbstbefähigung und der Entwicklung eines bewussten, motivierten und authentischen Verhaltens. Auszüge aus: Die Gymnastik des Berufsmenschen (Gindler 1926) Das Ziel meiner Arbeit [liegt] nicht in der Erlernung bestimmter Bewegungen, sondern in der Erreichung von Konzentration. Nur von der Konzentration her kann ein tadelloses Funktionieren des körperlichen Apparates im Zusammenhang mit dem geistigen und seelischen Leben erreicht werden. [...] Es wird uns allen immer mehr fühlbar, daß wir mit unserem Leben nicht mitkommen, dass das Gleichgewicht der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte gestört ist. [...] Wir hören auf, unser Leben denkend und fühlend zu gestalten, werden gehetzt und lassen alle Unklarheiten um und in uns so anwachsen, dass sie immer im ungeeigneten Moment Herr über uns werden. [...] Wenn unsere Schüler arbeiten, achten wir darauf, dass sie nicht eine Übung erlernen, sondern versuchen, durch diese Übung die Intelligenz zu vermehren. Wenn wir atmen, so erlernen wir nicht bestimmte Übungen, sondern bedienen uns dieser Übungen, um die Lunge zu kontrollieren, ihr Hemmungen zu geben oder Hemmungen zu beseitigen. Wenn wir uns bewusst werden, dass unser Schultergürtel nicht dort sitzt, wo er unsere Arbeit erleichtert, so korrigieren wir ihn nicht von außen an seine Stelle heran; damit ist nichts gebessert, denn sobald der Mensch mit etwas anderem beschäftigt ist, vergisst er den Schultergürtel. [...] Jedenfalls aber arbeitet jeder Kurs mit völlig andern Übungen und erfindet sich seine Übungen selbst. Wir erreichen dadurch sehr Wesentliches: Der Schüler fängt an zu spüren, dass er selbst etwas mit seinem Körper anfangen kann; er fühlt plötzlich, dass er, wenn er nur will, sich genau so, wie eben den Schultergürtel, den ganzen Körper erarbeiten kann; sein Selbstbewusstsein wird erhöht; das Stoffgebiet verwirrt ihn nicht mehr, er ist ermutigt. Das kann aber mit Übungen, und mögen sie noch so durchdacht sein, nicht erreicht werden. Soviel über unsere Arbeitsweise. Nun zu den Mitteln. Unsere Mittel sind: Atmung, Entspannung, Spannung. Worte, die demnächst so misbraucht sein werden wie alle schönen Dinge auf der Welt. Solange sie Vokabeln bleiben, stiften sie Unheil, und sobald sie mit Vorstellungen erfüllt sind, werden sie zu den großen Mittlern des Lebens. Eines der heikelsten und schwierigsten Gebiete unserer Arbeit ist die Atmung. Dass jede Bewegung die Atmung vermehren und vertiefen kann, können wir bei kleinen Kindern und Tieren beobachten. Bei dem erwachsenen Menschen jedoch, bei dem die körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte nicht mehr von der Einheit des Bewusstseins dirigiert werden, ist der Zusammenhang zwischen Atmung und Bewegung gestört. [...] Unsere Schüler konstatieren jedenfalls immer wieder mit sehr geringer Freude, dass man nur eine Handlung zu denken braucht und schon spürt, wie man starr wird, wie man seine Leistungen behindert. Man ist so daran gewöhnt, dass es schwer fällt, diesen Unsinn zu lassen. Bei schwierigeren Situationen, etwa bei einem Streit zwischen Ehegatten oder beim plötzlichen Erscheinen eines Vorgesetzten, sehen wir, dass dieses Hochziehen des Atems und der Krampf in der Zwerchfell- und Magengegend beängstigende Dimensionen annimmt. Der Atem setzt aus oder wird hastig eingezogen, und die Lage, die wahrscheinlich die höchste Beweglichkeit von uns verlangt, ist rettungslos verloren. Wir kennen diesen Zustand wohl alle als Verlegenheit, Angst, Mißstimmung, Zerfahrenheit im Geistig-Seelischen und als verlegenes Spiel mit Armen und Beinen, als Zittern im körperlichen Zustand. Wenn man sich schon bewusst ist, wie man diesen Zustand der Verkrampfung aufhebt, sich also loslassen kann, so ist man plötzlich der Situation gewachsen. Der Atem fließt freier, die geistige Verwirrung lässt nach, und man kann sich seiner Fähigkeiten wieder bedienen. Es ist klar, daß wir nicht mit großen Bewegungen anfangen können, wenn schon die allerkleinsten Störungen des Zusammenhangs hervorrufen. Man muss sich mal beobachtet haben, um zu wissen, was man alles macht mit der Atmung, wenn man sich die Zähne putzt, Strümpfe anzieht oder gar isst. So versuchen wir bei unseren Schülern erst einmal das Verständnis für diese Vorgänge zu wecken. Wir lassen irgendwelche Bewegungen machen mit dem Versuch, sie ohne Störung der Atmung auszuführen. [...] Wir werden bald anfangen, die wohltätigen Folgen zu spüren: so wie wir den Atem losgelassen haben, merken wir sofort, dass uns die Starrheit verlässt. Das ist es, was wir erfahren und erleben müssen: wie in dem Augenblick, in dem wir den Atem zur Folgsamkeit gebracht haben, wir das Gefühl des Lebens in uns bekommen. Aber noch mehr: Diese Atemverkrampfung steht in inniger Beziehung zur falschen körperlichen Spannung; niemals können wir zur körperlichen Entspannung gelangen, wenn nicht zu gleicher Zeit die Atemtätigkeit von jeder Verkrampfung befreit ist. [...] Das Anhalten des Atems in der Ausatmung ist die eine der üblichen Atemstörungen; eine zweite sehr häufige ist wie ein Gegenstück dazu, sie geschieht beim Einatmen, sie stellt sich dar als eine Art Luftanpumpung. Die gute ungestörte Atemtätigkeit ist an und für sich unwillkürlich. Wir können sie jedoch auch willkürlich machen und dadurch modifizieren und von ihrem natürlichen Lauf ablenken das geschieht, wenn wir die Ausatmung nicht vollständig ablaufen lassen und mit der Einatmung nicht warten, bis sie von selbst durch den physischen Reiz angeregt wird. Wenn man die Atmung zur Vollkommenheit führen will, muss man die vier Phasen der Atmung gut durchführen können: Einatmung, Ruhelage, Ausatmung, Ruhelage. Diese Ruhelagen und die bewusste Empfindung dieser sind von der größten Wichtigkeit: die Pause oder die Ruhelage nach der Ausatmung darf nicht tot sein; niemals darf sie ein Anhalten der Atmung sein, sondern sie gleicht eher dem, was wir in der Musik als Pause empfinden, die lebendige Vorbereitung auf das Nächste. [...] Für die Erlösung des Menschen von der Verkrampfung können nur die Bewegungen wirksam sein, die sich mit der bewussten und unwillkürlichen, oder besser gesagt mit der Öffnungsatmung verbinden. Die anderen Bewegungen wären eher geeignet, die Zusammenarbeit von Atmung und Bewegung zu stören und die Gewohnheit übermäßiger nicht angepasster Anstrengung zu steigern. Das ist ein weiterer Grund, der uns zwingt, die Bewegungen vorsichtig abzumessen. [...] Ich habe versucht aufzuzeigen, wie sehr Verkrampfung an Atemstörungen und diese wieder an Störungen im Psychischen gebunden sind. Lösungen oder Entspannungen sind also durchaus davon abhängig, dass wir imstande sind, eine lebendige Vorstellung davon in uns zu erzeugen und diese mittels geeigneter Übungen zu verwirklichen. Entspannung ist für uns ein Zustand der höchsten Reagierfähigkeit, eine Stille in uns, eine Bereitwilligkeit, auf jeden Reiz richtig zu antworten. [...] Sie lässt sich am leichtesten erreichen durch Empfindung der Schwerkraft. Die Schwerkraft müssen unsere Glieder begreifen und fühlen lernen, ja jede Zelle in uns muss wieder die Fähigkeit erwerben, ihr folgen zu können. [...] Wenn wir versuchen, die Schwere überall im Körper zu fühlen, auch im Kopf, dann kommen wir in einen Zustand, wo die Natur die Arbeit für uns übernimmt. In dem Maße, wie wir uns in die physikalisch richtige Lagerung bringen, stellt sich die richtige Atmung ein, nicht die willkürliche Atmung mit großen Aktionen des Brustkorbes, sondern eine ruhige Atmung; der Atem fliesst unmerklich hin und her, und damit stellt sich der Schlaf ein. Dann beim Stehen: Wir müssen fühlen, wie wir unser Gewicht an die Erde abgeben, Pfund für Pfund, und wie dabei die Füße immer leichter werden. Es tritt das Paradoxon ein: je schwerer wir werden, desto leichter, ruhiger werden wir. Beim Sitzen müssen wir uns aufrecht halten: solange wir krumm sitzen, stören wir den ganzen inneren Betrieb; man kann fühlen, wenn man sich aufrichtet, wie der Atem sofort ruhiger und befriedigender wird. [...] Nun noch einige Worte über Spannung: Sie kommt scheinbar etwas schlecht weg in unserer Arbeit, aber ich muss sagen: nur scheinbar! In Wahrheit ist es so, dass nur, wer wirklich entspannen kann, auch Spannungen haben kann. Darunter verstehen wir den schönen Wechsel der Energien, der auf jeden Reiz reagiert, der zunehmen, abnehmen kann nach der Beanspruchung. Wir verstehen darunter vor allem jenes starke Gefühl der Kraft, die Mühelosigkeit einer Leistung, kurz ein gesteigertes Lustgefühl. [...] Auszüge aus einem Vortrag vor dem Deutschen Gymnastikbund 1931 (nach: Ludwig 2021) Wir besitzen einen Organismus von einer Vollkommenheit, die wir selten oder niemals kennenlernen, weil wir ihn andauernd falsch benützen. [...] Wir müssten zu allererst einmal versuchen, uns bei allen Tätigkeiten uns selbst gegenüber so forschend und interessiert zu verhalten, dass wir die Zustandsveränderungen, die uns bei der Bewegung im Organismus widerfahren, „bewusst“ verfolgen können. Wir wissen, wie selten es zu einem wirklichen Gespräch kommt, wenn wir mit Menschen zusammen sind [...] Jeder sitzt im Grunde genommen nur da und wartet darauf, dass der andere seinen Mund zumacht. Denn um reagierend zuzuhören, müssten wir doch erst einmal still werden. [...] Dies ist auch der Grund, warum die meisten Menschen so erschöpft sind wenn sie mit Menschen in Gesellschaft zusammen waren. Wir sind so voller Unruhe und voller Lärm, nie wirklich einer Sache hingegeben, immer mit dem Kopf bei dem Vergangenen oder bei dem, was kommen soll, dass es fast stets dem Zufall überlassen bleibt, ob Kontakt mit Menschen oder den Dingen entsteht. [... Es] zeigt sich sehr bald, dass fast alle Menschen so absorbiert sind von ihrer Unruhe, dass sie sich zunächst gar nicht von der Empfindung aus wahrnehmen können. [Wir müssten so] weit zu uns kommen, dass wir still werden [...] In einem solchen Zustand [können wir uns] mit Menschen und Dingen in einer größeren Wachheit auseinandersetzen. Das Ziel unserer Erziehungsarbeit [Anm. E.G. sah sich selbst immer als Pädagogin, nicht als Therapeutin.] muss also immer wieder sein, den Menschen für eine Verhaltensweise zu interessieren, durch die seine Bewegungen und sein Organismus möglichst störungsfrei reagieren und funktionieren. Zur Erreichung einer größeren Leistungsfähigkeit ist es weiterhin notwendig, dass wir uns bewusst mit den uns von der Natur gegebenen Mitteln der Regeneration, zum Beispiel dem Schlaf, forschend beschäftigen. [...] Auf Kommando und durch Kommando lässt sich so etwas [Anm. gemeint ist: Regeneration] nicht herbeiführen, genauso wenig wie es jemals gelungen ist, Entspannung und Frische auf Kommando hervorzurufen. Man kann niemanden zur Ruhe kommandieren! Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht nicht der menschliche Körper, sondern der Mensch. Der Mensch als Ganzes in all seinen Beziehungsmöglichkeiten zu sich, zu seinem Körper, zu seinem Leben und zu seiner Umwelt. [Heinrich Jacoby: "Der zweckmäßige Gebrauch unserer Selbst"] Heinrich Jacoby (Wikipedia-Eintrag, Biografie) war ein bedeutender Wegbegleiter von Elsa Gindler und prägte die Körperarbeit maßgeblich mit. Sein Ansatz betonte die Ganzheitlichkeit des Menschen und die Verbindung von Körper und Geist. Aufgrund seiner Erfahrungen mit eigenen frühkindlichen Erkrankungen und später mit Musikern und Schauspielern entwickelte Jacoby einen Ansatz zur Verbesserung der Äußerungs- und Leistungsfähigkeit, der den Körper als zentrales Instrument betrachtet. Jacoby legte großen Wert auf die phänomenologische Herangehensweise. Seine Ideen und Arbeitsweise konzentrierten sich darauf, Menschen zu helfen, eine tiefere Verbindung zu ihrem Körper herzustellen, Blockaden zu erkennen und aufzulösen sowie die persönliche Entfaltung durch Achtsamkeit und kinästhetische Wahrnehmung zu fördern. "Zweckmäßiges Verhalten" sieht Jacoby als Erreichen von "Kontaktbereitschaft, Empfangsbereitschaft, Abklingenlassen von Verstörtheit, Abbau und Abklingenlassen von Panik und Aggressionsbereitschaft und allem überflüssigen 'Machen-Wollen' als Grundverhalten." [Folgende Zitate nach Jacoby (2011). Kursiv im Original, Hervorhebungen durch Fettschrift von mir.] Entscheidende Charakteristika des ... zweckmäßigen Verhaltes bei Wahrnehmung und Erfahrung, für das Entstehen von Kontakt mit Aufgaben und Menschen sind also die Qualität der Empfangsbereitschaft, Reagierbereitschaft und Registrierbereitschaft; die Bereitschaft, eingeleitete Funktionen, Prozesse ablaufen, geschehen zu lassen, statt sie zu "machen"..., sich gewissermaßen von der Aufgabe mitteilen zu lassen, wie man sich beim Erfahren und bei der Leistung zu verhalten hat. ... Ich nenne diesen Faktor ... "Einstellwirkung" (die Wirkung des Eingestelltwerdens). Alles Machen-Wollen, alles "Verhalten auf Vorrat" beeinträchtigt den unmittelbaren Kontakt zwischen Mensch und Umwelt. [S.13] Es gibt fast keine Aufgabe gegenüber der Mitwelt wie gegenüber uns selbst, bei der wir uns nicht bei unzweckmäßigem "Machen" begegnen können. ... Eine allgemeine Tendenz zu unzweckmäßigem Verhalten durchzieht unser Leben und lässt bei so vielen elementaren Möglichkeiten der Beziehung zur Umwelt einen Aufwand erkennen, der der Funktionsweise unserer Organisation nicht entspricht ... und den Kontakt mit der Umwelt und mit uns selbst verhindert. [S.117] [Kinder lernen] nicht durch Nach-Machen, sondern ... durch den Versuch, es auch zu machen. ... Dem Auch-Machen liegt ein anderes Verhalten zugrunde als dem Nach-Machen. ... Das sind zwei verschiedene Mentalitäten, bei denen man sich ... klar werden muss, dass die eine dem Menschen gemäß und menschenwürdig ist, dass sie Entfaltung, Selbstständigkeit und Reife bewirkt, und dass die andere für nur äußere Interessen und Zwecke nützlich sein mag, für Zwecke, die ... viel mit seiner Brauchbarkeit und Missbrauchbarkeit [zu tun haben]. [S.205] Empfangs-, kontakt- und reagierbereites Verhalten verlangt und bedeutet größere Stille, Gelassenheit und Selbstständigkeit des Erfahrenden und des Sichäußernden. ... Das bloße Sichverlassen auf erlernten Wissensstoff oder das Anknüpfen an von außen gegebene Vorschriften, Vorbilder, Anregungen oder Meinungen führen ebenso wie alles unnotwendige Machen zu beziehungsloser Routine. Routine und Nachahmen von Modellen, Vorbildern und "Idealen" beeinträchtigen genauso das unmittelbare In-Beziehung-Kommen zur Umwelt und die Bereitschaft, sich der Einstellwirkung zu überlassen, wie es durch Panik, Angst, Ehrgeiz und andere außersachliche Beunruhigungen geschieht. [S.15] Die jeweilige Qualität des Verhaltens lässt sich an den sich im Menschen vollziehenden Zustandsänderungen erkennen. Diese Zustandsänderungen bleiben dem Menschen zumeist unbewusst. Die Fähigkeit, sich ihrer bewusst zu werden, muss entfaltet werden ... [Dabei] zeigt sich deutlich, von welcher Bedeutung Angst, Panikstimmung und Aggression für das Erfahren und Sichäußern sind. Sie hauptsächlich verhindern die freie, offene und unmittelbare Kontaktbereitschaft der Welt gegenüber und die unbehinderte Wirkung der Welt auf den Menschen. Immer wieder findet sich eine unbewusste Abwehrhaltung, ein Sichverschließen, oder auch das Gegenteil, eine meist unbewusste Tendenz zum Angriff, zur Bekämpfung dessen, was man doch wahrnehmen möchte. [S.16] Echte Konzentration entsteht niemals durch Sichanstrengen oder durch den Versuch, Störendes wegzuschieben oder auszuschalten. Wo es stimmt, wird der Mensch durch die Aufgabe, die er akzeptiert hat, konzentriert, durch sie verwandelt und sogar festgehalten! Es gehört zu den Begleiterscheinungen des wirklichen Kontaktes mit einer Aufgabe, dass die akzeptierte Aufgabe den Menschen zu konzentrieren vermag. [S.36] Wir müssen uns und unseren Zustand mehr spüren und so still werden, dass wir bewusst empfinden, was eine Instanz in uns uns rät. ... In unserer Angst, unserer Unsicherheit, der ständigen Sorge, ob etwas richtig sei oder falsch, dem mangelnden Vertrauen zu dem, was man spürt, ist der Hauptgrund zu finden, weshalb wir so schwer still werden, weshalb wir so beunruhigt und so leicht beunruhigbar sind. Ein Mensch, der kein Vertrauen zu sich hat, kann nicht in Kontakt zu der Instanz in sich kommen, die ihn orientieren kann, in Kontakt zu dem "Empfinden für das Stimmende". ... Wer voller Angst ist, kann sich nicht zweckmäßig verhalten. ... [Um] bewusst gelassener werden zu können, ... müssen wir uns auch mit unserem Organismus beschäftigen, denn allein vom "Geistigen" her kann man das Problem weder richtig verstehen noch bewältigen. Auch der "Leib" ist verstört, wenn man in Panik ist! [S.53f] Das Prestige, die Geltung scheint für die meisten davon abzuhängen, dass niemand etwas an ihnen aussetzen kann. ... Es ist einem aber viel wohler, wenn man imstande ist, zu dem zu stehen, wie man im Moment ist, was man auf Grund seiner Vergangenheit und auf Grund des Ausmaßes seines Sicheinsetzens sein kann. ... Auf jeden Fall ist man umso freier und umso offener, je weniger man etwas scheinen will oder scheinen zu müssen meint, was man nicht ist oder noch nicht ist. [S.81f] Das Phänomen "Stille" muss uns so eindeutig werden, dass es unmöglich mehr mit Pseudostille - z.B. aus Erschlaffung - verwechselt werden kann. ... [Stille ist] Ausdruck der Tatsache, dass man ohne Angst ist und ganz bei einer Sache. ... Wer ganz bei der Sache ist, mit der er zu tun hat, ohne Angst, ohne Geltungs- und Prestigebedürfnis, der ist still, ist gelassen. [S.106] Der Mensch bleibt ein unteilbares Ganzes. Selbst wenn er verstört ist, äußert sich seine Verstörtheit ganzheitlich. Dass wir im Allgemeinen nicht aufgeschlossen genug sind, um die Umwelt und besonders Menschen als Ganzes auf uns wirken zu lassen, ist sowohl eine wesentliche Ursache für unzweckmäßiges Verhalten wie gleichzeitig eine Wirkung von unzweckmäßigem Verhalten. ... Wenn man aufgeschlossen der Umwelt gegenüber funktioniert, erfährt man ganzheitlich, und erst nachher, wenn man reflektiert, beginnt man, sich über Einzelheiten Rechenschaft zu geben. [S.61,64] Der Arbeit von Elsa Gindler verdanken wir die Einsicht in die Notwendigkeit, Beziehung zum Boden zu gewinnen ... und das Empfinden für das Getragenwerden unseres Leibes durch den Boden als wichtiges Element für Ruhenkönnen und Zur-Ruhe-Kommen. [S.123] Die bewusste Empfindung des Leibes, der leib-seelischen Prozesse und die bewusste Empfindung der Schwere des eigenen Organismus wurden zur Grundlage der Orientierung des Menschen in sich selbst, zur Wiedergewinnung naturgegebener Ordnung. Bei Bewegungsprozessen ließ [Gindler] die Qualität des "Rückwegs" als entscheidend für Regeneration oder Ermüdung klar erkennen und damit zugleich die Verwechslung von Entspannung und Erschlaffung. ... Die Bedeutung der Qualität des Verhaltens beim "Rückweg", in der "Etappe zwei" des Bewegungsprozesses, ist uns bereits ... begegnet ... in der Ausatmungsphase. In der "Etappe zwei" geht der Kontakt mit der Last - sowohl mit der eigenen als auch mit fremder - fast immer verloren, da die Last "von selbst fällt". Das Erschlaffen auf dem Rückweg tritt ein, weil kein Kontakt mehr zu dem Zug besteht, der auf die Masse wirkt. [S.339f] Bewegungsprobleme existieren für den Menschen nur, weil er meistens ohne Beziehung zu sich selbst und ohne Beziehung zu den Dingen, zur Umwelt, lebt. ... Bewegungsstörungen ... werden auch durch jede psychische Verstörung oder Verstörtheit (Verängstigung, Zur-Schau-Stellung, Geltungsbedürfnis, Auslösung der Tendenz zu aggressivem Verhalten) sowie durch isolierte oder überbetonte intellektuelle Ansprache und Beanspruchung bewirkt. ... Zweckmäßiger Verlauf von Bewegungen lässt sich beim Menschen ... u.a. an der Geräuschlosigkeit erkennen, mit der die Leistung sich vollzieht. [S.336f] [Charlotte Selver: Achtsames Spüren] Charlotte Selver (Wikipedia-Eintrag, Biografie) war eine Schülerin von Jacoby und Gindler und entwickelte auf dieser Basis ihren eigenen Ansatz namens Sensory Awareness. Ihr Fokus lag auf dem "Erfahren durch die Sinne". Charlotte Selver beeinflusste das Human Potential Movement entscheidend und wichtige Persönlichkeiten wie Erich Fromm, Carl Rogers, Ida Rolf, Moshé Feldenkrais und Fritz Perls wurden von ihr inspiriert. Ihr zentraler Ansatz lag in der Betonung von Achtsamkeit. (Auszüge aus Selver (1989, S.4-7), eigene Übersetzung, eigene Hervorhebungen) Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass Körper und Geist getrennt wären. Der Geist hat eine große Bedeutung, der Körper weniger. Nicht nur das: Viele Tabus bringen Hemmungen und Schuldgefühle für heranwachsende Kinder mit sich und beeinflussen weiterhin ihre Entwicklung, sogar ihr Leben als Erwachsene. "Ich muss mich immer auf irgendeine Weise kontrollieren, denn wenn ich das nicht tue, was wird passieren?" Außerdem wird bereits früh im Leben großer Wert darauf gelegt, wie wir aussehen. Überall, wohin wir uns wenden, verführt uns ein oberflächliches Bild von Schönheit und Anmut dazu, uns danach zu formen. Der Alltag in dieser immer stärker mechanisierten Welt setzt uns unter Druck und Belastung, wenn wir nicht elastisch genug sind. Man überzeugt uns davon, dass alle Gadgets, die wir zu benutzen gelernt haben, unser Leben erleichtern werden, und so versuchen wir, immer mehr zu tun. Aber in Wahrheit ist der natürliche Rhythmus unseres Lebens bedroht, wenn wir nicht selbst die Kontrolle übernehmen. Was die Menschen von uns denken, wie sie uns bewerten, hat oft so viel Macht, dass viele von uns lieber konform gehen, als den Mut zu finden, dem eigenen Gefühl für das Angemessene in einer bestimmten Situation zu folgen. All dies mindert oft unsere angeborene Fähigkeit, auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. Die Frage lautet: Sind wir in der Lage, den Störungen zu begegnen, die das Leben unaufhörlich schafft? Können wir uns regenerieren, wie es notwendig ist, oder bleiben wir länger als nötig unter dem Einfluss von Stress, Erschöpfung, Angst oder Misserfolg? In unserer Arbeit mit Sensory Awareness experimentieren wir mit allen einfachen Aktivitäten des täglichen Lebens, all den Dingen, die wir seit unserer Geburt tun oder die wir in unserer frühesten Kindheit gelernt haben, wie Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Bewegen, Ruhen, Sehen, Sprechen, Zuhören usw. Wie Elsa Gindler schon sagte: "Das Leben ist der Spielplatz für unsere Arbeit." Nach ausreichendem Experimentieren entdecken wir, dass die Trennung zwischen Geist und Körper nicht existiert. Alles, was uns persönlich berührt hat, was uns emotional beeinflusst hat, zeigt sich in dem, was wir als unsere "körperliche" Funktion bezeichnen. Diese Erfahrungen manifestieren sich in unserer Haltung, Bewegung, Ausdruck und in unserer Atmung. Wie ein Spiegel reflektiert der Organismus die Auswirkungen von Spontaneität oder unverarbeiteten Erfahrungen und Emotionen. Alle Veränderungen hin zu mehr Bewusstsein werden von Veränderungen in der Atmung begleitet. Diese Veränderungen finden spontan statt. Die Sensibilität für die Atmung in ihrem absolut natürlichen Zustand spielt eine dominante Rolle in unserer Arbeit. Unser tägliches Leben bietet uns genug Gelegenheit zur Entdeckung: beim Kämmen unserer Haare, beim Abwaschen des Geschirrs, beim Sprechen mit jemandem und so weiter. In solchen "unwichtigen" Lebensbereichen können wir die gleichen Einstellungen erleben, die wir in "wichtigen" Bereichen haben, in denen wir oft zu sehr absorbiert sind, um klar zu spüren, was passiert. Obwohl das Üben von Sensory Awareness oft therapeutische Effekte hat, wäre es ein Missverständnis zu denken, dass unsere Arbeit Therapie ist. Unser Ziel ist es nicht, das Leben gesünder zu machen, sondern es bewusster zu gestalten; nicht, es glücklicher zu machen, sondern es mehr in Einklang mit unserer ursprünglichen Natur kommen zu lassen. Je mehr wir zu unserer ursprünglichen Natur gelangen, desto mehr entdecken wir, dass gesünderes und glücklicheres Leben und Beziehungen von selbst entstehen. Wir beginnen zu entdecken, dass Erfahrungen im Organismus [während der Körperarbeit] ähnlich zu Erfahrungen im [täglichen] Leben sind. Das kann schwierig sein. Oft finden wir uns voller Angst, Veränderungen nicht zulassen zu wollen. Durch Experimentieren können wir den Gründen für zuvor unerklärte Probleme in unserem Leben gegenüberstehen. Aber mit wachsender Fähigkeit, das zu erlauben, was notwendig wird, wächst unsere Elastizität und damit auch unsere Sicherheit. Wir können nicht wissen, wie viel Energie wir haben, solange wir unsere eigenen Aktivitäten ständig beeinträchtigen. Wir können unsere wirklichen Fähigkeiten nicht kennen, bis wir uns in einem Maße befreit haben, dass sie sich vollständiger entfalten können. Wie Elsa Gindler zu sagen pflegte: "Wenn wir die Stärke zur Verfügung hätten, die wir darauf verwenden, uns selbst zu behindern, wären wir so stark wie Löwen." Was unsere Freiheit oder unsere mangelnde Freiheit schafft, ist unsere Haltung gegenüber allem, was wir treffen: die Art und Weise, wie wir unser tägliches Leben leben; die Art und Weise, wie wir mit unseren Familien und Freunden sind; die Art und Weise, wie wir unsere Arbeit machen; die Art und Weise, wie wir die Zeitung lesen; kurz gesagt, die Art und Weise, wie wir in dieser Welt sind. Wenn verstanden wird, dass wir die breitere Frage unserer Haltung zum Leben einschließen, wird uns das viel mehr helfen als nur an dem zu arbeiten, was wir als "den Körper" bezeichnen. (Auszüge aus Selver/Brooks (2007), eigene Übersetzung, eigene Hervorhebungen) Und was wir oft mit 'Denken' meinen - die wiederholte, zwanghafte Beschäftigung des Bewusstseins mit freien Assoziationen, Klischees und Kalkulationen - führt uns nicht zu, sondern weg von einem umfassenderen Bewusstsein. Diese Art von 'Denken' ist tatsächlich das betäubende und berauschende Mittel, dem so viel in unserer etablierten Kultur uns ständig zuführt und dem wir seit der Kindheit verfallen sind. [...] Aufmerksamkeit für das Empfinden [engl. "attention to sensing"] beruhigt das Zwanghafte in unserem Denken, sodass der Geist frei wird und für seine normale Funktion der Wahrnehmung verfügbar ist. Wenn das Radio im Geist verstummt, kann alles andere lebendig werden. [S.20] Sensory Awareness bedeutet in keiner Weise, eine Übung zu machen und gut darin zu sein oder nicht, sondern es geht darum, uns unseres Zugangs zur Welt bewusst zu werden und daraus zu lernen. In seiner grundlegenden Natur umfasst dieser Ansatz unsere Möglichkeit, so tief wie möglich in Kontakt mit dem zu kommen, was wir tun oder wen wir treffen. Wir arbeiten daran, präsent zu sein und das zu geben, was wir haben." [S.23] Die Unterscheidung zwischen spontanem und automatisiertem [oder: gewohnheitsmäßigem] Verhalten ist eines der Hauptthemen unserer Arbeit. Wie eine Person lebt - ist sie festgefahren oder reagiert sie frei im täglichen Leben? - ist die große Frage, auf die sich unsere Arbeit konzentriert. Viele Menschen machen zum Beispiel keinen Unterschied zwischen spontanem und automatisiertem Atmen. Sie haben die Vorstellung, dass, wenn sie genauso sind wie immer, dies spontan ist. Genauso wie Menschen, die sehr aufdringlich oder sehr faul sind, sagen: 'Das ist meine Natur; so bin ich', während es in Wahrheit bloß eine Gewohnheit ist - eine Abweichung von ihrer wahren Natur. Das Atmen ist immer so, wie die Person ist. Es ist der klarste Indikator dafür, was in der Person passiert - es sei denn, es wird vorgetäuscht. Viele Menschen denken, sie sollten 'richtig' atmen. Vergiss es! Es hat keinen Nutzen, weil es keine 'richtige' Atmung gibt. Deine Atmung zeigt sehr deutlich an, in welchem Zustand du dich befindest. Wenn du offen und reaktionsbereit bist, ist auch deine Atmung offen und reaktionsbereit; wenn du mehr automatisiert und festgefahren in Gewohnheiten bist, ist auch deine Atmung mehr automatisiert und festgefahren; wenn du aufdringlich bist, wird auch deine Atmung aufdringlich oder bleibt stehen. Du kannst darauf vertrauen - deine Atmung ist so, wie du bist. Ich würde sagen, zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist meine Atmung Ich; es ist immer Ich. [S.73] Das Erforschen des Atems sollte wirklich eine Praxis sein, die jedes Mal völlig neu ist - keine Wiederholung alter Gewohnheiten, sondern eine Entdeckung dessen, was in dem Zustand und der Aktivität vor sich geht, in der Sie sich gerade in einem bestimmten Moment befinden. Kein Moment kann mit einem anderen verglichen werden; in jedem gibt es etwas Neues zu entdecken. Es gibt Menschen, die ein ganzes Leben lang geübt haben, auf diese Weise zu atmen. Es ist eine der wundervollsten, erfüllendsten Praktiken, an der Sie teilnehmen können, denn während Sie durch die Erfahrung herausfinden, was es mit dem Atmen auf sich hat, werden Sie ruhiger und ruhiger, freier und freier, gesünder und gesünder, und lebendiger und lebendiger. Solange Sie leben, hört es nie auf; also machen Sie sich keine Sorgen darüber, wie lange es dauern wird! [...] Es gibt Tausende mögliche Gründe, warum das Atmen stocken kann. Sie können etwas bewundern, schockiert sein, dies oder das sein; und es hat keinen Sinn, sich darüber zu ärgern. Seien Sie dankbar, dass Sie das Stocken spüren und drängen Sie sich nicht zum Ändern. Dann werden Sie diese wunderbare Tatsache entdecken, dass das Atmen von selbst wieder beginnt, wenn Sie es nicht behindern. [Der Körper als Basis unserer Existenz] Unser Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Es verändert sich in, durch und mit ihm. Er ist Teil der Natur und ist in soziale Zusammenhänge eingebettet, an die wir uns anpassen müssen oder die wir verändern. Bei ausreichender Ernährung, Bewegung, Ruhephasen, Zuneigung und Pflege reguliert sich unser Körper weitgehend selbst. Unsere leibliche Intelligenz leistet das meiste in unserem Leben ohne bewusstes Zutun. Was wir sehen und hören, bewegt unsere Herzen, Muskeln und Eingeweide. Unser Gedächtnis beeinflusst, was wir riechen und schmecken. Wen und was wir berühren, geht auch unter die Haut. Ein Schrecken fährt uns spürbar ins Mark, oder eine freudige Überraschung lässt uns aufatmen. Wir kommunizieren Körpererfahrungen in Metaphern und vertrauten Redewendungen, meistens ohne bewusst auf diese zu achten. (Helmut Milz in Milz (2019), S.7. Hervorhebungen nicht im Original.) Die enge Verbindung von Körperleben und psychischen Prozessen wurde in den vergangenen Jahren häufig diskutiert und beschrieben. Das Zusammentreffen psychischer Erkrankungen mit unterschiedlichen körperlichen Beschwerden erscheint im Alltag eher als Regel, denn als Ausnahme. Daneben werden somato-psychische Störungen oder Erkrankungen beschrieben, bei denen sich auf der Basis einer organischen Krankheit erhebliche psychosoziale Schwierigkeiten entwickeln. [...] Alle Handlungen und alles Wahrnehmen sind stets ein integriertes Muster von vier Elementen: Bewegen, Wahrnehmen, Denken und Fühlen. [...] Dass Erinnerungen, seelische Konflikte und Einstellungen zum Leben zu typischen körperlichen Haltungen und spezifischen Bewegungsmustern und dann auch zu spezifischen motorischen Einschränkungen führen, lehrt die alltägliche Arbeit mit Patienten wie auch die Selbsterfahrung. Bleiben diese Muster unbewusst und bestehen sie über längere Zeit, werden sie zu Gewohnheiten. [...] Das aufmerksame und bewusste Erspüren von Körperhaltungen und Bewegungen [...] kann bisweilen heftige Emotionen wecken, bietet dabei aber auch immer eine Chance, Entwicklung nachzuholen und fixierte Denk- und Gefühlsmuster neu zu ordnen. [...] Betrachtet man die Entwicklung eines Menschen als einen Weg vom «Ich in mir» (Körperschema), über ein «Ich im Raum» (Raumschema) und «Ich in der Zeit» (Rhythmuserleben und Zeitgefühl) zu einem «Ich in Beziehungen» (Beziehungs- und Konfliktfähigkeit), so wird deutlich, dass all diese Reifungsebenen aufs Engste miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen. [...] Aufmerksames Berühren und Bewegen ermöglicht den Patienten ein besseres Verstehen und dann auch ein Verändern des «Ich in mir» und «Ich in Raum und Zeit». Da all diese Reifungsebenen letztlich eine Einheit bilden, kann dies auch zu einem veränderten Umgang mit Konflikten führen. (Ruth Künzler in Steinmüller (2009), S.140f,155. Hervorhebungen nicht im Original.) Oberflächlicher Kontakt mit dem Wunder unserer leiblichen Existenz, verlorenes Vertrauen in unsere Möglichkeiten zur Selbsterhaltung, Selbstregeneration und Selbstheilung schmälern unsere Lebensqualität. [..] In psychischer Hinsicht kann somatopsychisches Lernen [Anmerkung: Der Autor bezieht sich auf Achtsame Körperarbeit.] helfen, selbstsicher, angstfreier, aufrecht, aufrichtig, klar, beweglich, bereit, vertrauensvoll und fröhlicher zu werden. Es trägt spürbar dazu bei, mehr Halt in dieser Welt zu finden, Fuß zu fassen, auf die eigenen Füße zu kommen, Schritte zu tun, zu handeln, zu berühren, berührt zu werden, mehr Gespür zu entwickeln für Mitmenschlichkeit und Mitleiblichkeit. [...] Somatopsychisches Gewahrsein verknüpft Bewusstsein und leibhafte Erkenntnis. Es hilft zu lernen, was drinnen – in mir – vor sich geht, während zugleich draußen – etwas geschieht. Es erlaubt eine doppelte, ausgedehnte, frei flottierende Aufmerksamkeit für das jeweils Gegebene. [...] Im Rahmen der psychosomatischen und psychotherapeutischen Medizin und der Psychotherapie finden Methoden des somatopsychischen Lernens verstärkt Anerkennung. [...] Für die tiefenpsychologisch und psychoanalytisch orientierten Kliniken hat insbesondere die Arbeit von Helmut Stolze Bedeutung. Er orientierte sich an Elsa Gindler und hat deren Arbeit klinisch weiterentwickelt ("Konzentrative Bewegungstherapie"). Zudem hat dort die Methode der "Funktionellen Entspannung" nach Marianne Fuchs stärkere Bedeutung. (Helmut Milz in Steinmüller (2009), S.203,219,221. Hervorhebungen nicht im Original.) [Der Atem als Spiegel der Seele] Der Atem begleitet uns unser gesamtes Leben lang - von unserem ersten Atemzug bis zum letzten - und ist damit ein ständiger Begleiter und Spiegelbild unseres inneren Erlebens. Wie oft erleben wir in emotionalen Situation, dass "einem der Atem stockt" oder gar "die Luft wegbleibt", und wie froh sind wir, in Pausen mal so richtig "durchatmen" oder nach Herausforderungen "aufatmen" zu können. Atem ist zudem ein ur-eigenstes, höchst-persönliches Erleben, das nur uns selbst gehört. Kein anderer Mensch kann für uns atmen und wir nicht für andere. Der Atem ist immer bei uns und steht uns immer zur Verfügung, solange wir leben. Aus medizinischer Sicht ist der Atem eng mit unserem vegetativen Nervensystem verbunden und unterliegt den Einflüssen des Sympathikus (Energiebereitstellung und Anregung) und Parasympathikus (Ruhe und Regeneration). Der Atem unterstützt uns in jeder Lebenslage: Tiefes Einatmen steigert unseren Energiepegel, unser Aktivitätsniveau und Kraft; eine Betonung des Ausatmens fördert Regeneration, Entspannung und Ruhe. Mit einem freien Atem erleben ein verbessertes psychisches Wohlbefinden und eine Verringerung von Aufregung, Angst, Depression oder Wut und sind jeder Situation besser gewachsen (vgl. Zaccaro et.al. 2018). Wenn wir uns auf unseren Atem konzentrieren, können wir unmittelbar wahrnehmen, wie wir uns im Moment fühlen. Susana Bloch konnte nachweisen, dass Emotionen nicht nur Gesichtsausdruck und Körperhaltung beeinflussen, sondern ein jeweils spezifisches Atemmuster mit sich bringen (vgl. Theßen 2012). Wenn wir darauf achten, stärken wir unsere Selbstwahrnehmung und können schnell und einfach Kontakt zu uns selbst herstellen und vertiefen. Eine solche Klarheit stellt eine gute Grundlage für Kontakte nach außen dar. Gleichzeitig erlaubt uns eine bewusste Veränderung der Atmung im umgekehrten Weg auch eine Beeinflussung unserer emotionalen Lage. Letztlich können wir durch das bewusste Beobachten des Atems Kontakt zum aktuellen Moment aufnehmen und uns auf das konzentrieren, was tatsächlich im Hier und Jetzt gegeben ist. Denn unser Atem findet immer im gegenwärtigen Augenblick statt. Während wir uns in Gedanken und Gefühlen oft mit Ideen über Vergangenes oder Zukünftiges beschäftigen und dabei den Blick auf das, was aktuell gegeben ist, verlieren, können wir durch unsere Konzentration auf den Atem eine effektive Möglichkeit finden, wieder in Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment zu kommen. Das stärkt unsere Fähigkeit, bewusst und im Einklang mit uns selbst mit unserer Lebenssituation umzugehen. Damit ist der Atem eine einfache und effektive Methode, um Achtsamkeit in unseren Alltag zu integrieren. [Gerda Alexander: Die gute Spannung finden] Auszüge aus: Eutonie - Ein Weg der körperlichen Selbsterfahrung (Alexander 2011) Die Eutonie beruht auf dem bewussten taktilen Fühlen, der Entwicklung der Oberflächen-und Tiefensensibilität. Sie vermeidet darum jegliche Suggestion sowie die direkte Einwirkung auf die Atmung, sie arbeitet vielmehr mit indirekten Einwirkungen auf die vegetativen Funktionen. Ihre Pädagogik beruht auf der Freilegung des persönlichen Rhythmus jedes Schülers, durch Aufgabenstellung, die von ihm eigene Lösungen ohne Vorbild verlangen. Die «Präsenz» und der permanente Kontakt mit der Umwelt, ein wesentlicher Aspekt der Eutonie, entwickeln sich im Laufe der Arbeit. [...] Um einen echten Kontakt mit sich selbst, mit den Nächsten und mit der Umwelt zu gewinnen, ist es erforderlich, seinen Körper in der Bewegung und im Kontakt zur Umwelt bewusst zu erleben. [...] Die stetige Wechselbeziehung zwischen Gesamtpersönlichkeit und Umwelt ist, von unserem Standpunkt aus gesehen, die unerlässliche Voraussetzung für ein Realitätsbewusstsein, das die Grundbedingung einer guten psychischen Verfassung bildet. Zu lernen, sich und die Umwelt real zu fühlen und diese Fähigkeit in der Vielfalt des täglichen Lebens zu bewahren, ist daher eine der ersten Gaben und Aufgaben der Eutonie. [...] Ich verweise zudem in diesem Buch auf die überragende Bedeutung der Haut als Organ, als lebendige Hülle mit zahllosen Innervationen des gesamten Organismus. [...] Die Hautberührung, die uns Informationen über die Außenwelt vermittelt, teilt uns zugleich auch Wesentliches über uns selbst mit. Was wir berühren, berührt auch uns. [...] Meistens jedoch braucht man Geduld und Zeit, um jene Präsenz zu erreichen, da wir durch unsere Erziehung und durch unsere Lebensweise daran gehindert werden. [...] Die Folgen einer durch Spannungen und Hemmungen geminderten Reaktionsfähigkeit sind heute bekannt. Wenn eine Situation Reaktionen erfordert, die über unsere Möglichkeiten hinausgehen, vollzieht sich eine Art panische Flucht. [...] Henri Wallon [Anmerkung: französischer Psychologe, 1879-1962] hat zudem meisterhaft gezeigt, dass die Emotionen im muskulären Tonus gründen. Darum ist die Bedeutung der Fähigkeit, auf das Leben und die anderen Menschen im Vollbesitz des gesamten in der Tonusskala angelegten Reaktionsspektrums reagieren zu können, gar nicht zu überschätzen. Es lässt sich darum zeigen, dass nicht nur die Hypo-und Hypertoniker in ihrem emotionalen Leben gehemmt sind. Wer auf ein enges Spektrum des mittleren Tonus fixiert ist, ist nicht weniger beschränkt. [...] Wir wissen auch, dass die durch eine starre Struktur gesetzten Grenzen zu den Hauptursachen für unsere Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit unseren Mitmenschen zählen. Da die Eutonie auf dem permanenten Kontakt mit der Umwelt beruht, erlaubt sie dem Einzelnen nicht nur, sich selbst wiederzufinden, sondern trägt gleichzeitig auch dazu bei, die Schranken seiner Isolierung zu durchbrechen. [...] Es ist kennzeichnend für die Praxis der Eutonie, dass ein jeder sie anders erfährt, als einen Weg, auf dem das Leben selbst sich kundgibt. Denn die angestrebte Einheit entsteht durch das Zusammenspiel zahlloser innerer und äußerer Kräfte, die in uns auf immer neue Weise ein dynamisches Gleichgewicht erlangen. [...] Darum ist die Eutonie keinesfalls eine Methode im traditionellen Sinn, sondern eine neue Haltung gegenüber den Menschen und dem Leben. [...] Eutonie ist ein westlicher Weg zur Erfahrung der körperlich-geistigen Einheit des Menschen. Nicht durch Versenkung, sondern durch Erweiterung des Bewusstseins werden schöpferische Kräfte entfaltet und zugleich die soziale Kontaktfähigkeit aktiviert – ein Entwicklungsweg, der die Qualität der Persönlichkeit freilegt und ihr die Anpassung an das Leben der Gemeinschaft ohne Verlust ihrer Eigenart ermöglicht. [...] In der Eutonie werden die im allgemeinen unwillkürlich wirkenden Regulierungen des Tonus und des vegetativen Spannungsgleichgewichtes bewusst beeinflussbar. Dies geschieht anfangs durch Schulung der Oberflächen-und Tiefensensibilität. [...] Eine solche Schulung erfordert eine besondere, wache Beobachtungsweise. Das Bewusstsein hat die Fähigkeit, selber Objekt seiner Beobachtung zu sein und gleichzeitig den Auswirkungen dieser Beobachtung im ganzen Organismus nachzuspüren, den Wechsel von Tonus, Zirkulation und Atmung sowie deren Beeinflussung durch Emotionen und Vorstellungen, auch während der Bewegung, zu registrieren. Wir nennen diesen Bewusstseinszustand die «Präsenz». Sie verlangt eine bewusste Neutralität, damit die Beobachtungen nicht durch Erwartung bestimmter Resultate getrübt werden. «Neutral» sein können ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Eutonie. [...] So ist die erste Aufgabe, eine sich über die ganze Hautoberfläche erstreckende Sensibilität zu entwickeln und damit auch das Körperbild zu normalisieren. Erst dann können wir das für die Eutonie wesentliche Körperraumbewusstsein, das Muskeln, Organe und Knochenbau einschließt, entwickeln. [...] Als Tonus bezeichnen wir den Spannungszustand, der in der gesamten gestreiften und glatten Muskulatur des lebendigen Organismus zu finden ist und der optimal in der Ruhe im ganzen Körper den gleichen Spannungsgrad hat. Er erhöht sich bei Bewegung oder Erregungszuständen, senkt sich aber im Schlaf und in Erschöpfungszuständen. [...] Der Tonus ist auch beeinflussbar durch emotionelle Zustände und Veränderungen (Psychotonus), z. B. durch Angst, Freude, durch alle Formen von Erregungszuständen (hoher Tonus), sowie durch körperliche und seelische Übermüdung und durch Depression (niedriger Tonus). [...] Alle diese Schwingungen der menschlichen Gefühlsskala, von höchster Ekstase zu völliger Apathie, werden über einen flexiblen Tonus möglich, der nach Abklingen der extremen Spannungslagen wieder in eine Mittellage zurückschwingt. Diese Mittellage kann, je nach Konstitution und Temperament, etwas mehr zur hohen oder mehr zur niedrigeren Tonuslage tendieren. Erst wenn eine anormale Tonuslage fixiert ist, besteht im medizinischen Sinne eine Hypo- oder eine Hypertonie. Die Fixierung in der Mittellage, ohne emotionelle oder künstlerische Schwingungsfähigkeit, ohne Dynamik der Entfaltung, ist ebenso krankhaft. [...] Die Beeinflussung des Tonus geschieht anfangs durch die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperteile und -schichten, auf das Körpervolumen, das umgebende Hautorgan, auf den Körperinnenraum mit Organen und Knochenbau. Die unmittelbare willentliche Tonusumstellung kann durch Schulung erreicht werden. Sie ist subjektiv spürbar durch ein schwerer oder leichter Werden. [...] Nach Aufhebung der fast immer vorhandenen Tonusfixierungen werden die Beckenbodenmuskulatur, das Zwerchfell und die Zwischenrippenmuskulatur flexibel, so dass sie sich jederzeit dem aktuellen Sauerstoffbedarf anpassen kann. An der Atmung ist die psychosomatische Einheit der Persönlichkeit vielleicht am unmittelbarsten erkennbar und beeinflussbar. Darum wird in der Eutonie-Arbeit die Atmung der Schüler vom Lehrer fortlaufend beobachtet: ihr Rhythmus, die Dauer oder das Fehlen der Atempause, Anzeichen von zu schneller Umstellung des Spannungsgleichgewichtes, die sich im Verlauf der Spannungsregulierung ergeben können, was emotionale Unruhe oder Angst auslöst; vor allem aber werden die feinen Nuancen der Atemblockierungen in Brust, Bauch und Beckenraum beachtet, die Aufschlüsse über organische und psychische Störungen geben. Die Normalisierung der Atmung geschieht aber nicht durch aktive Übungen, sondern auf indirekte Weise durch Lösung der Spannungen, die die Entfaltung der optimalen unbewussten Atmung verhindern. [...] Die eigene Atmung zu beobachten, ohne sie gleichzeitig zu beeinflussen, ist äußerst schwierig, auch dann, wenn schon ein relativ gutes Körperbewusstsein entwickelt ist. [...] Wird über die Lösung der Spannungsfixierungen das Gleichgewicht der Spannungen erreicht, ist damit, ohne spezielle Atemübungen, eine jederzeit auch bewusst verfügbare, optimale Atmung gesichert. [...] In der Eutonie wird zwischen Berührung und Kontakt unterschieden. Durch die Berührung mit der Umwelt erfahren wir die Begrenzung unseres Organismus; wir erleben unsere äußere Körperform, die uns die Identifizierung mit uns selber ermöglicht. [...] Während wir bei der Berührung an der Peripherie unseres Hautorgans bleiben, überschreiten wir beim Kontakt bewusst die sichtbare Begrenzung unseres Körpers. [...] Wir erweitern dadurch unsere Erfahrungsmöglichkeiten und gelangen in eine unmittelbar lebendige Beziehung zu Dingen und Mitmenschen. Dieser bewusste Kontakt hat einen stärkeren Einfluss auf den Körper in Bezug auf Tonus-, Zirkulations-und Stoffwechselveränderungen als die Berührung. [Marianne Fuchs: Funktionelle Entspannung] Die Funktionelle Entspannung (FE) ist eine körperzentrierte Psychotherapiemethode, die von der deutschen Gymnastiklehrerin Marianne Fuchs in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet und gemeinsam mit dem Begründer der psychosomatischen Medizin Viktor von Weizsäcker an Universitätskliniken wie Marburg und Heidelberg weiterentwickelt wurde. Sie basiert auf einem ganzheitlichen Menschenbild, in dem das Körpererleben im Zentrum steht. Ihr Ziel besteht darin, Selbstakzeptanz und Selbstregulation zu fördern, was zu einem verbesserten subjektiven Wohlbefinden und gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen beiträgt. Die FE stützt sich auf die Annahme, dass Körper und Geist eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. So können sich beispielsweise psychische Belastungen in Form von körperlichen Spannungen und Beschwerden manifestieren. Umgekehrt kann die Entspannung des Körpers zu einer Reduzierung von Stress und Angstsymptomen führen. Bei der praktischen Anwendung der FE lenkt man die Aufmerksamkeit weg von der äußeren Welt hin zum Inneren des Körpers und von gedanklichen Prozessen zu körperlichen Empfindungen und Gefühlen. In der Arbeit mit der subjektiven Anatomie, also der Wahrnehmung des eigenen Körpers, werden subtile Bewegungsangebote genutzt, um die Selbstwahrnehmung zu fördern. Dabei spielen der Bezug zum Boden, das knöcherne Skelett, die Innenräume des Körpers, die Haut als Grenze und der individuelle Rhythmus eine zentrale Rolle. Kleine Bewegungen an den Gelenken ermöglichen eine intensivere Wahrnehmung von Druck, Spannung und Haltung. Dadurch werden Gefühle von Halt, Grenzen, Raum und Rhythmus erlebt, was wiederum zu einem spürbaren Entspannungseffekt führt, beispielsweise durch eine Lockerung des Muskeltonus. Dieser Prozess fördert einen Dialog mit dem eigenen Körper, der anschließend durch verbalen Austausch über körperlich-emotionale Erfahrungen vertieft wird. Die FE nutzt dabei eine bildreiche Sprache, um eine Verknüpfung zwischen körperlichen und psychischen Erfahrungen herzustellen. Dieser „Ebenenwechsel“ von der rein körperlichen zur kognitiven Ebene ermöglicht es, persönliche Ressourcen, die im Körper verankert sind, aufzuspüren und zu nutzen. [James Kepner: Körperprozesse gestalten]
Der Gestalttherapeut James Kepner integriert verschiedene Methoden wie Atemarbeit, Bewegung und Achtsamkeit, um emotionale Muster im Körper aufzudecken. Er bezieht Körpererfahrungen in die Therapie ein, indem er die Relevanz der Körperhaltung, Bewegungen und Körpererfahrungen eines Klienten für den therapeutischen Prozess betont.
Zentral für Kepner ist die Idee, dass unsere adaptive Körperstruktur nicht nur eine Summe organischer Anpassungsleistungen ist, sondern auch eine Art Spiegel unserer Lebenserfahrungen. Haltungen, Verspannungen und automatische Reaktionen manifestieren sich als Ergebnis der längeren Zeit, in der wir sie regelmäßig nutzen. Diese werden in der Muskulatur fixiert und sind nicht leicht veränderbar – ein physischer Ausdruck unseres Umgangs mit der Umwelt. Durch gezielte Experimente und Bewusstseinssteigerung sollen Klienten dazu ermutigt werden, ihre Körpergrenzen und -gefühle wahrzunehmen und ein tieferes Verständnis für ihre physische Existenz zu entwickeln. Der Widerstand, der dabei unweigerlich beim Klienten auftritt, ist von zentraler Bedeutung, da er die Dynamik des Selbst und den Prozess des Wandels beleuchtet. Sowohl der Widerstand als auch das, wogegen sich gewehrt wird, sind Teile des Selbst. Dieser Widerstand geschieht automatisch und spiegelt unvollständige und unbewusste Aspekte wider, die nicht vollständig anerkannt werden. Um Lösungen für diese unabgeschlossenen Situationen zu finden, betont Kepner den Aufbau eines Kontakts mit dem Körper als ersten Schritt. Dieser Kontakt dient als Basis, um ein sprachliches Vokabular für die Bedeutung von Bewegungen und Empfindungen zu entwickeln. Durch diesen Dialog zwischen abgespaltenen Teilen des Selbst können unerledigte Angelegenheiten bearbeitet und eine Integration angestrebt werden. Kepner betrachtet Empfindungen als die Rohdaten unseres Erlebens – sie umfassen körperliche Gefühle wie Propriozeption, Kinästhesie und viszerale Empfindungen wie Hunger, Durst, aber auch Bedürfnisse, Wünsche, Vorstellungen und Wahrnehmungen. Er betont die Bedeutung des Kontakts mit dem Körper, da ungesehene Teile zu enteigneten Selbstfunktionen führen können. Das Erwecken der Sinne kann Freude und Schmerz intensivieren, was ohne diesen Kontakt zu einem Gefühl der Leere führen kann. Ungelöste Lücken in der Sensorik führen zu blinden Flecken im Selbst- und Weltverständnis, was oft zu einem Gefühl des "wie gewöhnlich" führt. Dies kann zu Strategien wie dem Gebrauch von Drogen, der Suche nach Risiken oder der Intellektualisierung führen. Depersonalisierung und Dissoziation sind Mechanismen der Desensibilisierung gegenüber dem eigenen Selbst oder der Umwelt. Kepner erklärt, dass Desensibilisierung oft auftritt, wenn Empfindungen als unangenehm empfunden werden, nicht ausgedrückt oder befriedigt werden dürfen oder im Konflikt mit internalisierten Vorstellungen stehen. Mechanismen wie selektive Aufmerksamkeit, beeinträchtigte Atmung und chronische Muskelanspannung dienen als Schutzmechanismen gegen das Fühlen oder Handeln. Resensibilisierung kann durch Fokussieren auf den gegenwärtigen Körperzustand, tiefes Atmen und Berührung erfolgen. Es geht darum, von kognitiven Gedanken zum Körper zu lenken und eine gemeinsame Sprache für Körperempfindungen zu entwickeln. Die Experimente zur Steigerung von Körperempfindungen und die Arbeit an Widerständen sind Schlüsselpunkte. Die bewusste Wahrnehmung und Beschreibung von Empfindungen sowie das Ausdrücken von Körperimpulsen sind Schritte zur Bewältigung verleugneter Gefühle und Introjekte, um eine Veränderung zu ermöglichen.
Weitere Studien zur Wirkung von anderen Formen achtsamer Körperarbeit finden sich gesammelt hier: Link-Sammlung Mind-Body-Connection und hier: Link-Sammlung Feldenkrais sowie hier: Link-Sammlung Funktionelle Entspannung |